Für meinen Großvater,
der aus Eisstielen
Vogelhäuser gebaut hat.
Die Nacht war
mild und so klar, dass man die Sterne am Himmel sehen konnte. Er liebte die
seltsame Stille auf seinem Weg zur Arbeit. Auf den Straßen war um diese Uhrzeit
nicht mehr viel los. Ganz in der Nähe hörte man ein Auto um die Kurve rasen
oder traf auf einen Nachbarn, der mit dem Hund noch schnell eine Runde um den
Block drehte. Das Licht der Laternen flackerte hier und da, der Wind ließ die
Blätter der Bäume rascheln. Die Rollläden waren heruntergelassen und die Welt
hatte sich schlafen gelegt.
Er aber schlief nicht. Als
Bäckermeister hatte er schließlich früher als die anderen aufzustehen. Schon
sein Vater und dessen Vater hatten damals jeden Tag in Allerherrgottsfrühe in
der Backstube gestanden, Teig zubereitet, Bleche in den großen Ofen geschoben
und sich pünktlich zur Ladenöffnung zurück gelehnt und stolz, allerdings nicht
weniger erschöpft zugesehen, wie die Backwaren schließlich über die Ladentheke
gingen.
Er nahm die Abkürzung
durch den Park, vorbei an dem kleinen Ententeich, in dem schon lange keine Ente
mehr gesehen worden war und den steinernen Schachtischen. Mit seiner Frau hatte
er hier vor ein paar Wochen darum gespielt, wer sich den Namen des Kindes aussuchen
durfte, das sie erwarteten. Es war das Erste und ausgerechnet diese Partie
hatte er verloren. Sonderlich gut im Schach war er nicht, ein gerechter
Wettstreit war es daher also nicht gewesen, aber ebenso ungerecht wäre ein
Wettrennen mit einer hochschwangeren Frau gewesen.
Seit ihrer Hochzeit vor
einem knappen Jahr wohnten sie in einem hübschen kleinen Häuschen mit Garten.
Ihr Kind sollte schließlich in einem ordentliches zu Hause aufwachsen, auch
wenn das hieß, dass er in Zukunft jeden Penny zweimal umdrehen musste. Zu der
Taufe des Kindes wollte er einen Apfelbaum im Garten pflanzen. Eine Tradition
aus der Heimat seiner Mutter. Die Jahre würden vergehen und er würde dafür
sorgen, dass sein Kind auf feste, tief im Boden verankerte Wurzeln vertrauen
konnte, dass es den nötigen Halt fand um zu wachsen.
Vom Park aus gelangte er
schließlich zu dem schmalen Kiesweg, der parallel zu den Gleisen verlief.
Polternde Güterzüge fuhren in alle mögliche Gegenden. Er sah sich um und
kletterte kurzerhand über den Schotter auf die Gleise. Auf der anderen Seite
konnte er hinter dem Gebüsch und dem schäbigen alten Kiosk schon die Backstube
sehen. Auf seinem Heimweg am Tag verzichtete er auf diese Abkürzung und nahm
die üblichen Weg bis zum Bahnübergang in knapp 200 Metern Entfernung. Aber wenn
es noch dunkel war und er dabei keine Spaziergänger erschreckte und auch noch
nicht so viel Zugverkehr auf den Gleisen herrschte, erlaubte er sich diesen
kleinen Luxus.
Im selben Augenblick
stolperte er, geriet ins Straucheln und fiel schließlich vornüber zu Boden. Mit
dem Oberschenkel landete er hart auf der Schnienenkante. Eine Distel! Er war
doch tatsächlich mit seiner Hose an den stacheligen Blättern einer Distel
hängen geblieben, die sich durch den Schotter hindurch einen Weg in die
Freiheit gebahnt hatte. Er setzte sich hin und wollte das Unkraut an seinem
Bein abschütteln - erfolglos. Stattdessen schienen sich die feine Spitzen nur
noch tiefer in dem Stoff seiner Hose zu verbeißen.
Wo kam das Licht auf
einmal her? Ehe er das, was er sah, was er hörte, roch und fühlte in einen
klaren Gedanken fassen konnte, stand sein Herz für einen Sekundenbruchteil
still und nahm er einen kräftigen Atemzug. Dann kribbelte es in ihm, erst
langsam, dann schnell und heftig bis der Gedanke schließlich mit erschreckender
Klarheit und zeitgleich mit dem Poltern des Zuges in seinem Kopf ankam.
Es würde sein letzter
Atemzug sein.
Das Ticken der Wanduhr,
die über dem kleinen Tisch in der Küche hing, hallte dumpf in ihrem Kopf
wieder. Es war bereits mittags. Sie hatte auf einem der Stühle Platz genommen
und zwickte sich müde in die Nasenwurzel, um ihre Augen daran zu hindern
zuzufallen. Die letzten Stunden hatte sie damit verbracht den schmalen Flur auf
und ab zu wandern und auf jeden noch so kleinen Laut zu achten. Der
Polizeibeamte, der in der Nacht vorbeigekommen war, hatte ihr versichert, dass
er sich melden würde, sobald er irgendwelche Neuigkeiten hätte. Funktionierte
das Telefon überhaupt? Sie kam sich schon ein wenig eigenartig vor, als sie
alle paar Minuten den Hörer aufnahm, nur um sich des Freizeichens zu
vergewissern.
Ihr Sohn war gleich gekommen,
als sie ihn angerufen hatte. Sie hörte wie die Klospülung nebenan im Badezimmer
betätigt wurde. Kein Wunder, er hatte ja auch Unmengen Wasser, Kaffee und was
er sonst noch gefunden hatte getrunken. Vielleicht vor lauter Anspannung,
vielleicht weil das bange Warten ihn tatsächlich durstig machte, sie wusste es
nicht. Ansonsten saß er nahezu tiefenentspannt auf seinem Platz in der Sitzecke
und hatte ein paar alte Zeitungen vom Stapel genommen und durchblättert. Zum
Teil bewunderte sie ihn für die Ruhe und Gelassenheit, die er ausstrahlte, zum
Teil machte es sie wahnsinnig, dass er so unberührt dasitzen und den Sportteil
lesen konnte. Sie wusste ja selbst, dass ihr ständiges Auf- und Ablaufen ihn
auch nicht einfach so herzaubern konnte, aber wenigstens fühlte sie sich dabei
nicht tatenlos.
All die Jahre hatten sie
gemeinsam bestritten, einige turbulenter als andere. Jede Falte in ihrem
Gesicht schien eine andere Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen. Mittlerweile
würden die Geschichten vermutlich ein ganzes Buch füllen können. Zu ihrer
Enkelin hatte sie einmal scherzhaft gesagt, dass bald wohl kein Platz mehr für
Falten in Omas Gesicht seien würden und dass die Falten dann womöglich in das muntere
Gesicht ihrer Enkelin umsiedeln würden. Mit großen Augen und nachdem sie das
Gesicht für faltenfrei befunden hatte, hatte die Kleine an ihrem Bild weiter gemalt.
Auf ihrem Bild hatte sie ihre Großeltern, das Haus und den Garten mitsamt dem Apfelbaum
gemalt, der mittlerweile so groß und dicht war, dass er das ganze Licht vor dem
Wohnzimmerfenster wegnahm. Immerhin schmeckten die Äpfel.
Da klingelte es. Sie fuhr
hoch und eilte zur Tür, gefolgt von ihrem Sohn, der ihr seine Hand auf die
Schulter lag. Es war der Polizist von heute Nacht, dem sie erzählt hatte, dass
ihr Ehemann spurlos verschwunden war. Dem sie erzählt hatte, dass er mitten in
der Nacht aufgestanden sein musste, sich seine Schuhe angezogen und die Jacke
übergeworfen, den Hausschlüssel vom Haken genommen haben musste und zur Haustür
hinaus gegangen sein musste. Dem sie erzählt hatte, dass ihr Mann neuerdings
Medikamente nahm, die zwar seine Schmerzen linderten, seiner Ehefrau allerdings
auch eine höllische Angst einjagten, weil sie ihn Dinge sehen ließen, die sonst
niemand sah, beispielsweise Katzen in einem völlig leeren Flur oder Menschen,
die durch das Fenster hinein starrten.
»Da bist du ja. Und du
bist wohlauf.«, hörte sie sich schluchzen und fiel ihrem Mann in die Arme.
»Wo haben Sie ihn
gefunden?«, fragte ihr Sohn mit gedämpfter Stimme und deutete dem Polizisten an
einzutreten.
Er räusperte sich. »Nun
ja, Ihre Mutter hat im unserem Gespräch eine ganze Reihe Orte genannt, an denen
er sich bevorzugt aufhält oder wo man ihn sonst vielleicht finden kann. Einer
meiner Kollegen ist dorthin gefahren, wo früher mal die Bäckerei gewesen war,
in der er gearbeitet hat.«
»Also haben Sie ihn dort
gefunden?«
»Nicht ganz. Der Kollege
war vor Ort und hat auch die nähere Umgebung untersucht.« Er warf einen
flüchtigen Seitenblick auf den alten Mann. Seine Frau half ihm aus der Jacke.
»Er lag auf den Gleisen
am Ostend, als er heute Morgen um 8 Uhr 32 gefunden wurde.«
»Aber es geht ihm doch
gut, oder?« Sein Sohn beugte sich näher zu dem Beamten heran.
»Ich fürchte nein, ganz
und gar nicht. Physisch fehlt ihm nichts, er hat nur ein paar Schürfwunden.
Doch das, was er erzählt hat, als man ihn fand, bereitet mir Sorgen.«
»Inwiefern? Wovon
sprechen Sie?«, fragte der Sohn prompt.
»Er sagte, er sei
gestürzt auf seinem Weg zur Arbeit. Wiederholte es immer und immer wieder,
sagte, dass er gleich den Laden aufschließen müsse und seine Schicht beginne.«
»Da hat er sich mit Sicherheit
einen kleinen Scherz mit Ihnen erlaubt. Er hat manchmal einen ziemlich
eigentümlichen Humor, verstehen Sie.« Er drehte sein Wasserglas in den Händen.
»Da ist noch etwas.« Der
Polizist schluckte, ehe er weitersprach. »Er zitterte am ganzen Leib, als mein
Kollege ihn gefunden hat, wirkte konfus. Er sagte, dass er einen Zug auf sich zufahren
gesehen habe.« Ehe er weitersprach, nahm er seine Mütze ab. »Auf einem Gleis,
das seit 35 Jahren stillgelegt ist.«